top of page
Arminius:
Held oder Verräter

 

Motive, Probleme und Lösungsansätze der beiden Gegenspieler Varus und Arminius muten durchaus modern an: Auf der einen Seite der alternde "CEO", der sich nichts sagen lässt, alles besser weiß und schließlich stur ins Verderben rennt - auf der anderen der junge Heerführer, dessen Ehrgeiz und Karrierestreben ihn in ein ziemlich schiefes Licht rückt. An sich könnte man sagen: ein Problem der beiden Kontrahenten! Wären da nicht gute Gründe für die Annahme, dass diese beiden - zunächst nur ihren eigenen Interessen verpflichtet - wesentlich auf die Geschichte Europas und damit der Welt Einfluss genommen haben. Man stelle sich die rechts-rheinischen Gebiete bis zur Weser oder gar Elbe als romanisch-sprachig vor!

Die Romanischen Sprachen

 

Die weite Verbreitung der Romanischen Sprachen (RS) ist eine wohlbekannte Tatsache. Mindestens 700 Millionen verwenden RS als Erstsprache, eine weiteren halbe Milliarde als Zweit- oder Verkehrssprache. Damit liegen sie noch vor den Germanischen Sprachen einschließlich Englisch (!), wobei letztere eigentlich als eine auf einer Germanischen Basis ruhende, stark romanisierte Sprache definiert werden kann.

 

Schon sehr früh lernen die Kinder in Schule, dass die RS auf das Latein zurückgehen, genauer gesagt auf das sog. Vulgärlatein, die Sprache des einfachen Volkes,  welche sich – regional unterschiedlich – doch deutlich vom Hochlatein Caesars und Ciceros unterscheidet. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Mutter der RS, das Lateinische, als der Dialekt von Rom zur Zeit seiner Entstehung von ein paar hundert, vielleicht von wenigen tausend Menschen gesprochen wurde[1]. Sicherlich gehen der Siegeszug und die Ausbreitung der lingua latina Hand in Hand mit den militärischen Erfolgen Roms und dem Aufbau eines Weltreiches, aber die oft verblüffend schnelle Romanisierung von neuen Provinzen auf Dauer ist nicht ganz leicht zu erklären. Das Griechische etwa hatte in den Jahrhunderten nach Alexander von Makedonien im Osten des Reiches eine mindestens ebenso große Ausdehnung und Anzahl von Sprechern. Darüber hinaus besaß es vermutlich sogar einen größeren Stellenwert als Verkehrs­sprache als das Lateinische. Heute ist die Bedeutung der Griechischen Sprache eher gering. Das Vulgärlatein aber krallte sich in den großen Weströmischen Provinzen trotz heftiger Völkerbeweg­ungen und Usurpationsversuchen fest und entwickelte sich zu den RS. Manche der romanisierten Provinzen wuchsen sich zu mächtigen Staaten aus. Diese Länder waren der Ausgangspunkt großer Entdeckungen, gefolgt von Eroberung und Expansion (Frankreich, Spanien, Portugal). Daher waren diese Länder effiziente Verbreiter der RS, sowohl als Mutter- wie auch als Verkehrssprachen.

 

Romanisierung

 

Die Mechanismen, durch die es vor allem im keltisch dominierten Bereich des römischen Reiches (Iberische Halbinsel, Frankreich, Norditalien [2]) zu einer kompletten Romanisierung gekommen ist, sind zweifellos vielfältig und sicherlich zu verschiedenen Zeiten unter­schiedlich. Eine der zentralen Strategien Roms bestand in der Gründung von coloniae, Kolonien [3]. In der späten Republik und in der Kaiserzeit bildeten sie das Kernstück der Romanisierung in neu eingerichteten und/oder ‚unruhigen‘ Provinzen. Neben Militär­stützpunkten waren sie attraktive Mittel- und Ausgangs­punkte für einen neuen, vermutlich als schick empfundenen Lebensstil, an dem die lokale Oberschicht sicherlich gerne teilnahm. Verdienten einheimischen Größen konnte die civitas romana, das Römische Bürgerrecht, verliehen werden, in der Spätzeit des Imperiums erhielten es alle. Gemeinsam mit dem neuen Lifestyle, den coolen Luxusgütern und Modeartikeln[4] breitete sich auch die neue Prestigesprache, die lingua latina in ihrer Vulgärvariante, auf dem flachen Land aus, gesprochen vor allem von den in den Kolonien mit Land abgefundenen Veteranen, selbst oft keine lateinischen Mutter­sprachler. Die Grundlage einer neuen romanischen Nation war somit geschaffen.

 

Geiseln in Rom

 

Eine weitere Methode zur Verbreitung römischer Denk- und Lebens­weisen, aber auch zur eventuell notwendigen endgültigen ‚Befriedung‘ [5] einer neu errichteten Provinz war die Verpflichtung zum Stellen von Geiseln aus dem lokalen Adel. Um beurteilen zu können, was die Stellung und das Schicksal von Geiseln bedeutete, die dem Imperium gestellt wurden oder gestellt werden mussten, ist die Kenntnis ihrer politischen Funktion und völkerrechtlichen Aufgaben hilfreich. Im Wesentlichen kannte das Römische Rechtswesen drei Arten von Menschen, die wir nach heutigem Sprachgebrauch als Geiseln bezeichnen würden.

 

 

  • Captivi, wörtlich: Gefangene; Menschen, die als Gefangene unter Römischer Gewalt gehalten wurden, um gegenüber einem Gegner, dem man feindliche Absichten unterstellen musste, ein Druckmittel in der Hand zu haben.

  • Obsides, praktisch immer übersetzt mit: Geiseln; Menschen, die – meist nach einer Niederlage – mehr oder minder gezwungener­maßen übergeben (dati) wurden und die ebenfalls als Drohmittel fungierten, etwa, um einen Waffenstillstand einzuhalten.

  • Pignores, eig.: Pfand; Menschen, die von unter Umständen durchaus friedlich und freundschaftlich gesinnten Gruppen von Menschen nach Rom geschickt wurden. Sie galten als Versicherung und Pfand, man könnte vielleicht sagen als Kaution für die Einhaltung von geschlossenen Verträgen.

 

 

Meist waren die pignores Söhne von Adeligen, Stammesfürsten oder Clan-Chefs. Sie wurden in vornehme römische Familien aufge­nommen und erhielten dieselbe, in der Regel hervorragende Schul­bildung wie die eigenen Kinder der Familie. Im jungen Erwachsenenalter wurden sie militärisch ausgebildet und nahmen häufig als junge Offiziere an Kampfeinsätzen der Legionen teil. Blieben sie in Rom oder einer besonders wichtigen Kolonie, so wurden sie nicht selten Befehlshaber von Auxiliartruppen oder anderen Miliz-artigen Verbänden. Sie konnten auch in ihre ehemalige Heimat zurückkehren und dort versuchen, eine prestigiöse Funktion in ihrer Bürgerschaft zu übernehmen. Sie waren angesehene Botschafter der Freundschaft mit Rom, der Römischen Lebens- und Denkungsart, Keimzelle einer Romanisierung ‚von oben‘. Das System funktionierte in der Regel hervorragend. In der Regel, aber nicht immer.

 

Es bedurfte einerseits der Unfähigkeit, Sturheit und Überheblichkeit, andererseits des Ehrgeizes und Machtstrebens zweier historisch gut fassbarer Personen, Varus und Arminius, um eine Abweichung von dem scheinbar in Stein gemeißelten Ablauf der Dinge zu bewirken. Man darf vermuten, dass die Konsequenzen dieser Auseinandersetzung einen ganz entscheidenden Einfluss auf den Ablauf der Europäischen Geschichte ausgeübt haben [6].

 

Cherusker

 

Man kann annehmen, dass das heutige Ostwestfalen bis zur Weser und zum SO von Niedersachsen als das Zentrum des Siedlungsgebietes der Cherusker anzusehen ist. Sie wären also den sog. Weser/Rhein­Germanen [7] zuzurechnen. Manche Wissenschaftler vertreten die Theorie, dass sich das Cheruskische Siedlungsgebiet sehr deutlich mit jenem überlappt, das dem sog. Nordwest­block zugeschrieben wird. Dieses sei bewohnt gewesen von Stämmen, die zwar indo-europäischen Ursprungs waren, die aber weder als Kelten noch als Germanen [8] anzusehen sind. Das ‚germanische Element‘ der Cherusker wäre, folgt man dieser historischen Sicht, durch die diversen Fürstengeschlechter vertreten gewesen. Das passt zu der Vorstellung, dass sich die damals noch im Wesentlichen gemeingermanischen Sprachen von NO her über einen expansiven Krieger-Adel ausgebreitet hätten, der die eher bäuerliche Gesellschaft [9] des NW-Blocks dominiert habe [10].

 

Arminius

 

Arminius wurde nach antiken Angaben im Jahr 17 v. Chr. geboren [11]. Der Name seines Vaters, zu der Zeit offenbar Chef des Stammes, und dessen Bruders sind überliefert: Segimer bzw. Inguimer. Ebenso kennen wir den Namen seiner späteren Ehefrau, Thusnelda (zumindest dem Namen nach die Urmutter aller Tussis), und den seines Schwiegervaters, Segestes. Der herrschende Adel war in erster Linie mit internen Streitigkeiten und Kämpfen beschäftigt, die an die Rosenkriege des Englischen Adels erinnern. Das führte schlussendlich zum Zerfall des einst mächtigen Stammes, der dann schließlich noch vor der Völker­wanderungs­­zeit, vermutlich von den Chatten (bewahrt im Namen ‚Hessen‘), aufgesogen wurde. Zu der Zeit, als Arminius im Knabenalter war, ging es im Stamm vor allem um die Frage, welcher Kurs gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Süden und neuerdings auch im Westen [12] gefahren werden sollte. Arminius‘ Vater Segimer war Vertreter eines römerfreundlichen Kurses und sicherlich bereit, freundschaftliche Verträge mit den Römern abzuschließen. Das mag der Grund sein, warum Arminius gemeinsam mit seinem Bruder Flavus nach Rom als pignores verbracht wurden. Bei seiner neuen Familie [13] erhielt er, wie schon oben dargelegt, eine sehr gute Schulbildung; er beherrschte sicherlich zwei-, möglicherweise sogar drei Sprachen (Griechisch).

 

Später als junger Mann absolvierte er eine militärische Ausbildung. Man kann annehmen, dass diese zu einer ausgezeichneten Kenntnis des Römischen Militärwesens geführt hat, jedenfalls stieg er in den Offiziersrang auf. Uneinigkeit herrscht darüber, ob Arminius als junger Offizier Befehlshaber einer germanischen Miliz-artigen Truppe oder, weniger wahrscheinlich, von regulären Auxiliareinheiten war. Wie auch immer, er diente dem Imperium Romanum ca. 10 Jahre rund um Christi Geburt. Unter anderem war er mit seiner Truppe an der Niederschlagung des Pannonieraufstandes beteiligt. Er muss tüchtig gewesen sein und sich im Kampf für Rom bewährt haben, denn er erscheint uns nach dieser Zeit als Besitzer des Römischen Bürgerrechts und des Adelstitel eines eques. Etwa um das Jahr 8 starb sein Vater Segimer, und Arminius kehrt er in sein altes Stammesgebiet zurück. Er wird wohl erwartet haben, dass er ‚zu Hause‘ sehr bald eine führenden Stellung einnehmen würde, aber so leicht scheint das nicht gewesen zu sein. Angeblich musste er seine spätere Ehefrau Thusnelda [14] mit Gewalt aus ihrem Familienverband entführen, was ihm sein Schwiegervater Segestes, an sich ein Römerfreund, wohl nie verziehen hat. Die Machtsituation in der Führung der Sozietät könnte mit ein Grund sein, warum Arminius die Seiten wechselte und sich der römer­feindlichen Fraktion zuwandte. Die  ungeschickte Vorgangsweise des Varus und dessen Arroganz im Umgang mit den ‚Barbaren‘ (s.u.) mögen das ihre dazu beigetragen und den ehrgeizigen jungen Fürsten in seinen Entschlüssen bestärkt haben.

 

Varus

 

Publius Quinctilius Varus, legatus pro praetore (Statthalter) der brandneuen, vielleicht noch de facto zu errichtenden Provinz Germania magna, Mitte 50, war ein hochdekorierter, erfahrener Mann. Seine Qualifikation als Chef der Mission hatte er sich vor allem im Osten des Reiches erworben. Er schien der geeignete Mann zu sein, die neue Provinz endgültig zu einer befriedeten zu machen, die sie trotz vorhergehender militärischer Erfolge noch nicht war. Die Ereignisse des Jahres 9 mit dem Verlust von dreieinhalb Legionen plus Tross in der nach ihm benannten Varusschlacht lassen allerdings vermuten, dass es ihm offensichtlich an Einfühlungsvermögen und Urteilskraft gefehlt hat, um seine Funktion als Statthalter und Militärchef erfolgreich zu gestalten, kurz, dass er der falsche Mann für diesen Job war.

 

Zum ersten scheint ihm nicht klar gewesen zu sein, dass er es im nördlichen Mitteleuropa mit völlig anderen Menschen zu tun hatte als mit jenen, die er im Nahen Osten kennengelernt hatte, und mit denen er einen komplett anderen Umgang pflegen konnte als mit den Germanen. Die unterschiedlichen Motive der noch-nicht Provinzialen, entweder Krieg zu führen oder sich friedlich zu verhalten, hat er sicherlich nicht richtig eingeschätzt, insbesondere was die Rolle des Adels betrifft, der wohl in erster Linie an Macht und Prestige interessiert war. Der Übergang von ‚Freiheit‘ zum Leben als Römischer Provinziale war wohl immer heikel und verlangte von den neuen Herren doch einiges an Fingerspitzen­gefühl. Dieses scheint Varus völlig abgegangen zu sein. Er war somit unfreiwillig einer der Schmiede einer viele Stämme umfassenden antirömischen Koalition.

 

Zum zweiten war es für einen alten Römer aus echtem Schrot und Korn nur schwer, wenn überhaupt, vorstellbar, dass ein Römischer Bürger, kommandierender Offizier und Ritter des Reiches auf die absurde Idee kommen könnte, mit den halb- oder eher gar nicht zivilisierten Einge­borenen gemeinsame Sache zu machen und damit als – aus seiner Sicht – Hoch­verräter den Ruf und die Reputation seiner Freunde und Familie zu zerstören. Der öfter in der neueren Literatur geäußerten Meinung, Varus sei der Sündenbock für viele Mitschuldige gewesen und nicht der primär Verantwortliche für das Desaster, kann man eigentlich nur schwer folgen. Dieses Gefühl verstärkt sich, wenn man der Story Glauben schenkt, dass er von Arminius‘ Schwiegervater Segestes gewarnt worden und ihm geraten worden war, Arminius zu verhaften, welcher zu der Zeit häufig Gast in der Messe der höheren Offiziere war; jedenfalls war Arminius am Abend vor der Schlacht im Römischen Lager anwesend.

 

Die Schlacht

 

Drei Römische Legionen, zusätzlich 6 Kohorten, drei Reiterabteilungen (alae) und der gesamte Tross, zusammen sicher nicht viel weniger als 20.000 Mann, sollten von ihrem Sommerlager aus in ihre Winterquartiere am Rhein marschieren und zwar über die Route, auf der sie gekommen waren: entlang der Lippe – sie entspringt in der Nähe von Detmold – ziemlich genau in westlicher Richtung nach Xanthen am Rhein. Die genaue Lage des Sommerlagers kennt man nicht, man wird aber nicht sehr falsch liegen, wenn man die Gegend vom Ursprung der Lippe bis zur Westfälischen Pforte annimmt, ein strategisch sicher besonders interessantes Gebiet. Arminius war im Lager des Varus präsent, er war, wie schon erwähnt, ca. ein Jahr vor der Varusschlacht in das Stammes­gebiet der Cherusker zurückgekehrt, vermutlich gemein­sam mit seiner cheruskischen Reiterei, die sich im Kampf gegen die aufständischen Pannonier bewährt hatte. Arminius schaffte es, Varus von folgender Vorgangsweise zu überzeugen: Das Heer sollte nicht, wie vorgesehen, die Lippe-Route einschlagen, sondern nach NW abbiegen, um sozusagen im Vorbeigehen von dort gemeldete aufflammende Unruhen im Keim zu ersticken; der Marsch wäre genauso leicht zu bewältigen und genauso sicher wie entlang der Lippe, und man könne sich durch leicht errungene Siege zusätzliche Sporen verdienen und den Befriedungsvorgang beschleunigen. Varus gefiel der Plan und er gab die entsprechenden Befehle.

 

Es ist aus der heutigen Sicht nicht leicht verständlich, wie ein erfahrener Mann wie Varus eine Reihe solch elementarer Fehler begehen konnte.  Auf dem Marsch sind die Legionen gegen Guerilla-artige Attacken besonders verletzlich. Schon allein deshalb ist eine gut bekannte Marsch­route wie die entlang der Lippe einem unbekannten Weg unbedingt vorzuziehen. Wenn eine neue Marschroute gewählt werden muss, ist sie durch Kund­schafter ausgiebig zu explorieren, und zwar hinsichtlich der Begehbarkeit und Sicherheit. Hätte Varus verlässliche Informationen über die Beschaffenheit der ‚Alternativroute‘ gehabt, er hätte nicht einmal im Entferntesten erwogen, diese zu wählen. Es scheint, als ob Varus den Worten Arminius‘ mehr vertraut hat als den Dienstvorschriften.

 

Wie schon erwähnt, hat es Arminius Schwiegervater Segestes nicht an Warnungen fehlen lassen, den Plänen Arminius‘ zu trauen, angeblich ging seine Warnung so weit, dass er vorschlug, Arminius in Ketten zu legen. Aber Publius Quinctilius Varus war offenbar entschlossen, in sein Unglück zu rennen und zwar gemeinsam mit dem ihm anvertrauten Heer.

 

Am folgenden Tag brach man auf, vielleicht entlang des Ostabhanges des Wiehengebirges in Richtung des heutigen Osnabrück [15]. Die Topographie des Marschweges wurde immer ungünstiger: eng, mit störender Vegetation, sumpfig, letztlich ohne Ausweg. Das Heer auf dem Marsch bildete ein Schlange von sicherlich einigen Kilometern und war nicht kampfbereit (impeditus, behindert, bepackt; Terminus technicus für den Soldaten auf dem Marsch) und daher extrem vulnerabel. Letztlich waren die Legionen und der Tross für die Germanischen Verbände unter der Führung des erfahrenen Fachmannes Arminius eine leichte Beute. Das Schlachten dauerte drei Tage. Von den 20.000 Mann konnten sich nur wenige in ein nahegelegenes, einigermaßen gut befestigtes Kastell retten. Kümmerliche Reste des Heeres erreichten schließlich die sichere Rheingrenze, die von 2 kampfbereiten Legionen, stationiert in Mogontiacum (Mainz), gesichert wurde. Varus und seine Offiziere begingen, soweit sie nicht ohnedies schon gefallen waren, Selbstmord[16].

 

In der Folge ließ Arminius alle Römischen Kastelle und Kontrollpunkte rechts des Rheins zerstören, um den Römern eine Neubesetzung möglichst zu erschweren. Einige Jahre versuchte das Imperium, die schmähliche Niederlage zu rächen, aber die Siege des Germanicus über Arminius, für die er einen Triumph feiern durfte, spiegelten – bestärkt durch Rom-freundliche Schilderung und Interpretation der Ereig­nisse[17]  – wohl mehr Römisches Wunschdenken wider, als es die Realität hergab. Schließlich entschloss sich das Reich, die Germanen bei den Versuchen, sich selbst zu vernichten, nicht weiter zu stören, was letztlich die richtige Strategie war. Arminius führte im Jahre 17 einen für beide Seiten verlust­reichen Krieg gegen den Markomannen Marbod, der trotz großer Anstrengungen eine Niederlage gegen die Cheruskische Alianz erlitt und damit gewissermaßen für seine Schaukelpolitik zwischen Rom und den verschiedenen Germanischen Stämmen bestraft wurde. Die alte Taktik Roms (divide et impera), die Führer der Germanen sich selbst dezimieren zu lassen, ging schließlich auf, Arminius wurde im Jahr 21 von Verwandten erschlagen. Der Zustand des Cheruskischen Adels wird am besten durch die Tatsache beleuchtet, dass Italicus, Sohn des Flavus (stets strikter Gegner seines Bruders Arminius und treuer Soldat Roms) auf Bitte einer Cheruskischen Delegation nach Germanien ging, um dort Fürst des Stammes zu werden. Offensichtlich hatten alle anderen Mitglieder des Arminius-Clans einander schon umgebracht. Aber auch Italicus verstrickte sich in stammesinterne und -externe Intrigen und blieb letztlich erfolglos: Die Cherusker sind zu Tacitus‘ Zeiten nur mehr ein ‚elender Haufen‘ und verschwinden spätestens im 2. Jh. aus dem Licht der Geschichte.

 

Conclusio

 

Es ist sicherlich eine interessante Angelegenheit, die Motive und Entscheidungen von Arminius genauer unter die Lupe zu nehmen. Schließlich haben beide Sichtweisen seiner Person, Verräter oder Volksheld, ihre Anhänger. 

 

Nach heutigen Standardvorstellungen von Verlässlichkeit, Loyalität und Vertragstreue, insbesondere in einem militärischen Umfeld, war Arminius zweifellos ein Verräter, der mit voller Absicht seinem Land, das ihn in einer privilegierten Situation ins Erwachsenen­alter gebracht hatte und ihn mit einem hohen gesellschaftlichen Ansehen ehrte, sehr großen Schaden zugefügt hat. Nicht, dass so etwas nicht auch heute passieren würde, aber ein Wechsel der Seiten, wie ihn Arminius vorexerziert hat, wird und wurde zu jeder Zeit als Hochverrat qualifiziert. Dabei spielt es keine Rolle, ob man seine Motive als nachvollziehbar oder sogar als ehrenhaft ansieht oder nicht[18]. Lehnt man die Beurteilung ‚Verräter‘ kategorisch ab, so wird man sich dem Vorwurf stellen müssen, als Arminius-Anhänger einer emotionalen Beurteilung der Person Vorrang vor einer sachlichen einzuräumen.

 

Um der Person Arminius wirklich gerecht zu werden, muss man seine Handlungen allerdings nach den Kriterien und Beurteilungs­usancen seiner Zeit betrachten. Sicherlich ist ihm schon als Kind eingebläut worden, dass er zum Herrschen ausersehen ist, und die Erlangung von Macht und Prestige zu seinen wichtigsten persönlichen Zielen zählen muss. Diese Ziele werden später einmal einen höheren Stellenwert gehabt haben als die Loyalität seiner zweiten Heimat gegenüber.

 

Als in Rom Aufgewachsener war Arminius sicher klar, dass er in Rom sicher nicht ‚ganz hinauf‘ kommen könne, aber ‚ganz oben‘ war zweifellos dort, wo er hin wollte. Seine Person, er selbst, lag im Fokus seiner Interessen, und nicht der Staat oder irgendein Stamm. Man muss aber so fair sein festzustellen, dass es die ehrgeizigen, machtbewussten, rücksichts- und skrupellosen, letztlich aber erfolgreichen Menschen sind [19], im wesentlichen Männer, die die Geschichtsbücher füllen. Arminius war nur einer von vielen dieser Art.

 

Es ist vermutet worden, dass Arminius in seiner Jugend irgendeine Beleidigung oder Demütigung erlebt habe, für die er sich Jahre später revanchierte. Möglich, wie es ist, gibt es dafür allerdings keine konkreten Hinweise. Gegen diese Theorie spricht die lebenslange Rom-Treue seines Bruders Flavus, der dieselbe Kindheit und Jugend durchlebt hat wie Arminius.

 

Der Sichtweise, dass sich Arminius, zurück in der noch-nicht-wirklich-Provinz Germania magna, entsetzt von den unangemessen brutalen Methoden des Varus bei ‚Befriedung‘ und Steuereintreibung, aus Widerwillen gegen die Vorgangsweise der Römische Besatzung dem Freiheitskampf der Germanen widmete, ist ein romantischer Topos [20]. Vielmehr kann man annehmen, dass Arminius erkannte, dass er die Unzufriedenheit und Wut auf die Römer für seine Zwecke nutzen könnte. Unter den gegebenen Umständen war es leicht, mit der unfreiwilligen ‚Hilfe‘ des Varus eine starke anti-Römische Koalition unter Einbeziehung mächtiger Stämme zu bilden. Auch war klar, dass auf Grund seiner Erfahrung mit dem Römischen Militär­wesen und seiner Kampferprobung nur er für das Oberkommando in Frage kam.  Arminius konnte wohl nicht widerstehen und griff zu. Viele seiner Zeitgenossen hätten vermutlich dasselbe getan.

 

Man mag der oben geschilderten Einschätzung des Arminius ganz oder teilweise zustimmen, oder sie auch ganz oder teilweise ablehnen. Völlig außer Zweifel steht allerdings die Unsinnigkeit des Topos von Arminius als Volksheld und Befreier der Germanen oder gar der Deutschen. Wenn man die Situation in den Jahrhunderten vor der Völkerwanderung betrachtet, so muss man einige Tatsachen festhalten: Ein ‚Volk‘ in heutigem Sinne hat es zur damaligen Zeit nicht gegeben. Es gab zahlreiche Stämme, mehr oder weniger miteinander verwandt, ohne politisch relevante Kooperation, beherrscht von Adelsgeschlechtern, die ausschließlich ihren Partikularinteressen nachhingen, vollkommen ohne jegliches Germanisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Gegenteil, Kämpfe unter­einander waren häufig, Überfälle auf Nachbarn durchaus etwas Ehrenhaftes, wenn ordentlich Beute gemacht wurde. Lockere Bündnisse für gemeinsame, meist kriegerische Unternehmungen zer­fielen meist nach Ende der Kampagne sehr schnell. Versuche, größere Gebilde auf Dauer zu errichten, scheiterten wie jene vom Markomannen­könig Marbod, der versuchte, ein beständiges Elbgermanisches Königreich zu errichten. Auch die Cherusker konnten sich nicht für eine längere Zeit als Machtzentrum etablieren (s.o.). Noch zur Zeit der Völker­wanderung sind Ost- und Westgoten erbitterte Feinde, die auf den Katalaunischen Feldern 451 dem Machtkampf zwischen der Attila- bzw. der Aetius-Allianz viele ihrer Männer opferten. Auch die Franken, Burgun­­­der, Vandalen und einige weitere Stämme kämpften damals verlustreich auf beiden Seiten. Erst mit dem Abklingen der Völkerwanderung bildeten sich Strukturen, die ein über ein einfaches Stammes­bewusstsein hinausgehendes politisches Zusammengehörigkeits­gefühl hervorbrachten (Alemannen, Franken, Sachsen, Baiern). Noch viel später etabliert sich der vielseitige Begriff ‚deutsch‘. Als sprachlicher Begriff erstmals in karolingischen Amtsstuben verwendet, kommt ‚deutsch‘ um fast 800 Jahre zu spät, um für Arminius ein Motiv gewesen zu sein.

 

Volk, Vaterland und Nation, Germanisches und Deutsches [21]: Für die Cheruskerfürsten des 1. Jh., unter ihnen Arminius, waren das keine Begriffe, die sie gekannt haben und die einen Einfluss auf ihr Handeln genommen haben könnten. Jedenfalls hat es ein Römischer Ritter Cheruskischer Herkunft geschafft, eine kurzlebige Koalition aus den Germanischen Stämmen einer projektierten Römischen Provinz zu bilden und dem Imperium Romanum am Höhepunkt seiner Macht eine empfindliche Niederlage [22] zu bereiten. Die Etablierung der Provinz Germania magna wurde dadurch verhindert, ein weltgeschichtlich zweifellos bedeutendes Ereignis.

 

Wie immer man – unter Berücksichtigung der Verhältnisse zu Beginn des 1.Jh. –  die Handlungsweise des Arminius bewerten will, man sollte seine Entscheidung auf der Basis von überlieferten Fakten treffen. Romantische Vorstellungen des 19. Jh. eignen sich nicht für eine gerechte Beurteilung des Nicht-Volkshelden.

 

 

Fußnoten:

 

 

  1. Latein stellt die 5. Differenzierungsebene dar: Indo-Europäisch, Italisch, Latino-Faliskisch, Latinisch, Stadtrömisch (Lateinisch)

  2. Die italienischen Dialekte nördlich einer Linie, die von La Spezia bis Rimini zu ziehen ist, zählen zu den keltoromanischen Sprachen

  3. Der Name der Stadt Köln verrät, dass diese einst Römische Kolonie war.

  4. Paris gilt ja heute noch als das Zentrum der Mode, des guten Geschmacks und des savoir vivre

  5. Der lateinische Ausdruck für das Errichten einer neuen Provinz lautet pacare, befrieden. Die Wahl dieses Ausdruckes spricht für sich.

  6. Dass der Rhein im Wesentlichen für kaum weniger als 2000 Jahre als Trennlinie zwischen Romanischer und Germanischer Welt fungiert hat, ist zumindest zu einem großen Teil auf die Initiativen Caesars (Eroberung Galliens) und Arminius (Varusschlacht) zurückzuführen.

  7. Das Hauptelement des Stammesverbandes der Franken

  8. Den Begriff ‚Germanen‘ sollte, wenn man von Ereignissen um die Zeitenwende spricht, nur in einem sprachlichen Kontext verwenden. Eine germanisches Identitäts- oder Zusammengehörigkeitsgefühl ist ein Stereotyp der Neuzeit (siehe Conclusio). Der ständige Kampf und Streit zwischen den einzelnen Stämme bzw. der einflussreichen Familien um Macht und vor allem Prestige war der Motor der Ereignisse im nördlichen Mitteleuropa.

  9. Wenn Caesar von den Germanen schreibt, agri culturae non student, meint er wohl die Oberschicht.

  10. Es könnte sein, dass ein eher unbedeutender Stamm des NW-Blocks von den westlichen Nachbarn als ‚Germani‘ bezeichnet wurden. Später hätte sich dieser Name auf fast alle rechtrheinischen Stämme ausgedehnt. Die Germanen wären also  keine ‚Germanen‘ . Sehr verwirrend.

  11. Die Etymologie des Namens ist unklar; möglicherweise stammt er von ‚seiner‘ Römischen Familie. Mit ‚Hermann‘ hat er jedenfalls sicher nichts zu tun. Der Name seines Bruders Flavus (Blondschopf) ist leichter zu durchschauen.

  12. Caesar hatte ja ca.50 Jahre vorher Gallien erobert und zu einer Römischen Provinz gemacht; die dortige Entwicklung wurde von den rechtsrheinisch Lebenden sicherlich sehr genau beobachtet.

  13. Möglicherweise einer großen Etruskischen Adelsfamilie zugehörig

  14. Thusnelda wird um das Jahr 15 von Germanicus gefangen genommen. Über ihr Schicksal und das ihres in Gefangenschft geborenen Sohns Thumelicus wissen wir nichts.

  15. Es ist viel über den Ort der Varusschlacht geschrieben worden (Tacitus: Haud procul saltus tetoburgensis, nicht weit weg vom Teutoburger Wald; was auch immer das heißen mag). Kalkriese in der Nähe von Osnabrück gilt, wenn auch nicht allgemein anerkannt, als ein führender Kandidat für den Ort der Schlacht. Sicherlich nicht hat sie in der Nähe des Hermann-Denkmals bei Detmold stattgefunden.

  16. Der abgeschnittene Kopf des Varus trat eine makabre Reise durch Europa an: Vom Cheruskerland nach Böhmen zu Marbod, König der Markomannen; dieser sandte ihn zurück an den Absender und nicht, wie verlangt, nach Rom. Eine eher geschmacklose Machtdemonstration des Cheruskers gegenüber Rom, aber auch gegenüber seinen Germanischen Nachbaren.

  17. Tacitus, ein Meister der Sprache, scheint sich einen gewissen Sarkasmus zu bedienen, wenn er bei der Schilderung der 200-jährigen Geschichte der Kriege gegen die Germanen vom Blickpunkt des ausgehenden 1. Jh. schreibt: ‚Und so lange besiegen wir schon die Germanen!‘

  18. Man erinnere sich an die unterschiedliche Einschätzung der Aktionen von Edward Snowden.

  19. Pikanterweise werden solche Männer noch mit dem Ehrentitel ‚Der Große‘ geschmückt. Pervers.

  20. Topos ist der in den Geschichtswissenschaften verwendete Terminus technicus für eine immer wieder vorgebrachte vorgefasste Meinung, stereotypischen Gemeinplatz u.ä., welcher sich aber weiter Verbreitung und großer Beliebtheit erfreut.

  21. Von einer Deutschen Nation wird man korrekterweise ab dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jh. sprechen können.

  22. Als größte Niederlage der Römer gilt die Schlacht bei Cannae gegen Hannibal. Verluste von 80000 Mann werden berichtet.

bottom of page