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Kann man aus der Geschichte 
lernen?

Ursachen und Mechanismen von Wanderungen ('Migration'')

 

1. ‚Einsickern‘  

 

Besiedlung einer bestimmten Region mit einer vorerst limitierten Anzahl von Menschen, und zwar unter Duldung oder sogar mit Zustimmung der dort lebenden Population. Oft werden die ‚Migranten' gerufen (Handwerker mit speziellen Kenntnissen; Kleinunternehmer; Söldner); später Nachzug von immer mehr Menschen. Gleichzeitig  kann man ein ‚Hinaufsickern‘ von Migranten-Nachkommen in prestigiöse Positionen beobachten. Schließlich kann es zu einer Totalübernahme der Herrschaft durch die Migranten kommen, auch zu einer Veränderung in der ethnischen Zusammensetzung (z.B. ‚Vermischung‘). Ein mögliches häufig zitiertes Beispiel aus der Antike: Hethiter. Beispiel aus der Neuzeit: Bleichgesichter in den USA und Kanada. Gegenwärtig kann man genau die Abläufe und Mechanismen des ‚Einsickerns‘ in einem frühen Stadium an der ‚Latinisierung‘ der USA, besonders in den südlichen Bundesstaaten beobachten; für diese Sichtweise spricht u.a. die Tatsache, dass die Zweisprachigkeitsgrenze Englisch/Spanisch stetig nach Norden wandert. Auch die türkische bzw. türkisch-stämmige Bevölkerung in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, könnte als Beispiel für eine eingesickerte Ethnie dienen.

 

2.  ‚Aussickern‘

 

Mit diesem Begriff kann man das Verlassen der Heimatregion eines signifikanten Anteils der Bevölkerung über einen längeren Zeitraum aus Regionen mit als untragbar empfundenen Lebensbedingungen definieren: Mangel an Grundbedürfnissen; berechtigte Angst vor Verfolgung aus ethnischen oder religiösen Gründen, vor Krieg und Terror; Verlust von Familienangehörigen; Verlust der Wohn- und/oder Arbeitsplatzfazilitäten und von Geschäftspartnern;  fehlende Meinungsfreiheit sowie Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten.  Durch Aussickerung droht der Ausgangsregion der Verlust des gut ausgebildeten Teils der Bevölkerung. Im Wesentlichen gibt es keine bevorzugten Zielregionen, daher beobachtet man keine ethnische Verdünnung der einheimischen Bevölkerung in den Zielregionen. Betroffen durch Migrationsverluste sind zahlreiche Regionen (s.u.) in Afrika, Asien und Europa (Balkan, v.a. ehemaliges Jugoslawien, Albanien/Kosovo; Kaukasusstaaten).

 

3.    Flucht/ Vertreibung

 

Im Wesentlichen sind identische  Motive wie unter Punkt 2 am Werk, aber durch katastrophale, akut bedrohliche Ereignisse (Krieg, Terror, ethnische/religiöse Verfolgung; Naturkatastrophen) befeuert. Auch kann aus unterschiedlichsten Gründen das Verlassen der bisherigen Heimat mit Gewalt durchgesetzt werden (‚Vertreibung‘).

 

Beispiele:

  • Europa: ‚highland clearances‘; jüdische Bevölkerung (mehrmals); vertriebene/ausgebombte Deutsche;       Ungarn 56; Tschechen & Slowaken 68;  Balkankriege)

  • Afrika: Kriegerische Ereignisse und Terroraktionen in zahlreichen Regionen Afrikas, z.B. Sahel-Zone; Horn von Afrika/Somalia, Sudan; Zentralafrika

  • Asien: Armenier/Türken; Palästina, Mesopotamien; Afghanistan; Sunniten/Schiiten-Polarität

  • Amerika: (‚trail of tears‘; Der ‚Lange Marsch der Navajos‘).

 

Diese Form der Migration kann also, zumindest zum Teil, als Akutform des ‚Aussickerns‘ angesehen werden (s.o.), bei der den Migranten oft keine andere Wahl geblieben ist, als auszuwandern, da nicht nur eine adäquate Lebensführung, sondern auch Leib, Leben und Familie akut bedroht sind. Obwohl es für die Migranten kaum eine Alternative gibt, lässt man sie mancherorts spüren, dass sie unwillkommen sind. Je nach Art und Größe der Zielregion können die Migranten die ethnische Zusammensetzung beeinflussen.

 

4. Massenauswanderung

 

einer oder mehrerer Ethnien in einem, im Wesentlichen einzigen weitläufigen Zug auf der Suche nach einer neuen Heimat. Beispiele:  Hyksos (Auaris); Kelten (Galatien); Kimbern und Teutonen (frustran); später Vandalen, Goten, Alanen, Langobarden > Andalusien, Katalonien, Lombardei tragen ihren Namen; Skoten im 4. Jh. von Irland nach Schottland; Kelten aus S-England nach Frankreich (Bretagne; das Wort ‚Britannien‘ ist noch zu hören);  Awaren, später Magyaren in SO-Europa (Kernland Ungarn); im 19. Jh. Iren nach der Kartoffelkäferkatastrophe, s.u. Die Gründe für die Auswanderung sind unterschiedlich (z.B. zu schlechtes Klima – Missernten; zu gutes Klima – Überbevölkerung; Druck von außen – z.B. Hunnen). Die neu Eingewanderten hinterlassen, wenn sie sich etablieren können, unterschiedlich starke sprachliche und ethnische Spuren. (Extreme: Kimbern und Teutonen: spurloser Untergang; Magyaren: Etablierung der magyarischen Nation bis heute). Man kann aus Gegenwart und Vergangenheit weltweit zahlreiche dieser sog. ‚Völkerwanderungen‘ beobachten und als solche bezeichnen.

 

5. Elite-Dominanz

 

Eine relativ kleine, aber aggressive Gruppe dringt in die Region ein und dominiert die indigene, meist bäuerlich-friedliche Bevölkerung, und übernimmt die Funktionen des lokalen Adels, so vorhanden; charakteristisch ist für diese Art der Migration, dass die kleinere ethnische Gruppe (die ‚Elite‘) in der Lage ist, neben ihrer gesellschaftlichen Struktur auch ihre Sprache für die gesamte Bevölkerung zu etablieren. Beispiele: Mykenisierung des Griechischen Festlandes und Ionisierung W-Anatoliens; ‚Germanisierung‘ Mitteleuropas; Südamerika: spanisch-stämmige Clans sind noch immer tonangebend in vielen lateinamerikanischen Ländern; Kaste 1und 2 in Indien (Brahmanen; Kshatriyas).  Das indigene ethnische Element wird verdünnt, kann aber erhalten bleiben; eine neue Ethnie wird/kann entstehen. 

 

6. Conclusio

 

Wörtlich genommen ‚wiederholt‘  sich die Geschichte natürlich nicht,  die äußeren Umstände im Ablauf der einzelnen Ereignisse über die Jahrtausende hinweg  sind viel zu unterschiedlich, als dass eine ‚Wiederholung‘ möglich wäre. Allerdings gewinnt man den Eindruck, dass bestimmte Grundmuster dieser Abläufe immer wieder und zeitunabhängig zu beobachten sind und sich sehr wohl gewisse Gesetzmäßigkeiten herausdestillieren lassen. Man kann also, wenn man vorsichtig und kritisch vorgeht, ‚aus der Geschichte lernen‘. Gerade das Beispiel ‚Migration im Laufe der Jahrtausende‘  legt dies nahe. Aus der Geschichte zu lernen, setzt allerdings voraus, dass die Absicht auch ernsthaft ist. Der Versuch, mit vorgefassten Meinungen und unreflektierten Ansichten (Resultate ungenügenden Quellenstudiums) die Geschehnisse und Abläufe der Gegenwart verstehen und erklären zu können, ohne einen kritischen Blick in unsere Vergangenheit geworfen zu haben, ist nicht nur wenig erfolgversprechend, sondern auch gefährlich. Gerade Letzteres sollte uns anregen, sich mit den unterschiedlichen Quellen kritisch auseinanderzusetzen und dadurch die Geschichte einigermaßen gut zu verinnerlichen; dann nämlich wird man auch von ihr lernen.

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